Die Kapitulation am 8. Mai 1945 besiegelte schließlich auch das offizielle Ende des Krieges. Anschließend US-Militärbehörden begannen Schritt für Schritt demokratische Strukturen aufzubauen. Ziel war es, in den folgenden Jahren, Deutschlands Bevölkerung bis hin zu Straßennamen und Denkmalen zu entnazifizieren. Mit vielen Angeboten, neuen nach US-amerikanischem Vorbild gestaltete Zeitungen sowie Zeitschriften und dem Rundfunksender „Radio München“ begann die so genannte Reeducation. Der fanatische nationalsozialistische Nachbar der Fahrbauers, der zuletzt bei der SS in Dachau andere SS-Soldaten ausbildete, kam ins Dachauer Internierungslager. Seine Frau und die beiden Kinder mussten in ein Zimmer der Wohnung zusammenrücken. In den anderen Räumen wurden deutsche Flüchtlinge aus dem Sudetenland und Ostpreußen einquartiert. In manchen Zeiten waren auf den sechzig Quadratmetern sechszehn Menschen notdürftig untergebracht. Auch bei den Fahrbauers wohnte eine weitschichtig verwandte Familie. Sie stammten aus Gablonz an der Neiße, einer für ihre Glas- und Schmuckproduktion bekannten böhmischen Stadt. Bald siedelten sie wie viele andere ehemalige Nachbarn nach Kaufbeuern über. Der Ortsteil wurde später sogar in Neugablonz umbenannt und auch die Glas- und Schmuckproduktion wurde wieder aufgenommen.
Ansonsten fehlte es so ziemlich an allem, vor allem Lebensmittel und Baustoffe waren knapp. Trotzdem begannen die zurückgekehrten Bewohner in der Stadt aufzuräumen und die Häuser wieder aufzubauen. Im Nordteil des Luitpoldparks, nahe der Trambahnstrecke wuchs ein großer Schuttberg.
Die ehemaligen ZwangsarbeiterInnen, Kriegsgefangene und Überlebenden der Konzentrationslager wurden von der eigens gegründeten UNO-Organisation UNRRA betreut. Als Displaced Persons, kurz DPs genannt, mussten sie oft trotzdem in den Lagern bleiben und sollten von dort aus schließlich in ihre Herkunftsstaaten transportiert werden. Schnell hatten sich Gerüchte herumgesprochen, wonach vor allem im Osten den Zurückgekehrten feindselig begegnet wurde, weshalb viele Menschen nicht mehr zurück wollten. Auch jüdische DP’s waren zum Teil lang noch in Lagern, weil sie nirgendwo hin konnten.
Währenddessen führten die US-Behörden Spruchkammern ein. Alle mussten Fragebögen zu ihrem Engagement im NS-Staat ausfüllen. Nur wer nicht belastet war, durfte wieder arbeiten. Spruchkammern stuften anhand der Fragebögen NSDAP-Mitglieder in verschiedene Belastungskategorien ein.
Bei diesen Verfahren konnten belastende Materialen, aber auch entlastende Aussagen
eingebracht werden. Deshalb wurden zahllose so genannte Persilscheine ausgestellt. Zur Entlastung des internierten Vaters baten die Nachbarn der Fahrbauers auch um ein solches Schriftstück. Vater Fahrbauer tat aber so, als hätte er es nicht richtig verstanden und ging seitdem der Nachbarin lieber aus dem Weg. Die schwächer belasteten Nationalsozialisten kamen zuerst an die Reihe. Sie sollten schnell erledigt werden, damit sie als dringend benötigte Arbeitskräfte bald wieder arbeiten gehen konnten. Die stark belasteten Fälle rutschten so in spätere Phasen, in denen auf Grund der politischen Großwetterlage, nur noch harmlose Einstufungen vorgenommen wurden. So schaffte es auch der belastete Nachbar wieder als Beamter in den Staatsdienst zu kommen. Er entschied in den 1950er Jahren über Widergutmachungsanträge jüdischer Überlebender. Diese Anträge erwiesen sich im Allgemeinen als recht zähe Verfahren und zogen sich oft über Jahrzehnte hin.
Karikatur "Mensch ärgere Dich nicht über die Wiedergutmachung",
aus dem Jahr 1950 aus der Allgemeinen Wochenzeitung der
Juden in Deutschland (heute Jüdische Allgemeine).
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Ein Verwandter der jüdischen Nachbarsfamilie, die in den 1930er Jahren nach Milbertshofen gezogen war, stand Anfang der 1960er Jahre vor der Wohnungstüre der betagten Eltern Fahrbauer. Er habe mit großem Aufwand die Adresse ermittelt und sei nach München gekommen, um nach seiner Familie zu forschen. Deren Spur habe sich noch auf einer Transportliste in das Konzentrationslager Auschwitz nachweisen lassen, dann aber verloren. Erschüttert versuchten die Fahrbauers alle Erinnerungen zusammenzuklauben. Es war ja so viel passiert in der Zwischenzeit. Aber sogar die Suche nach einer Fotografie, auf der die gesamte Familie der ehemaligen Nachbarn zu sehen war, endete leider erfolglos.